Leben mit LHON: erworbene Behinderung / Blindheit

Nadine trägt eine graue Weste und eine Cap. Sie sitzt an einem Tisch. Man sieht sie bis zur Brust. Sie schaut zur Seite und lächelt. Sie hat rote Lippen und kinnlange wellige braune Haare. Vor ihr auf dem tisch liegt ihr Langstock

Nur 3% der Behinderungen sind angeboren. Die meisten Behinderungen werden im Laufe des Lebens erworben. 2011 brach bei mir der seltene Gendefekt LHON aus. Dieser führte bei mir innerhalb weniger Monate zur Erblindung. In diesem Artikel möchte ich euch meinen persönlichen Weg zur Diagnose und Akzeptanz aufzeigen. Mein Leben mit LHON.

Inhaltsverzeichnis

Leben mit LHON: Wie alles begann

Meine Reise startete im November 2011. Wohin diese Reise mich führen würde, konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen. Auf der Arbeit bekam ich Schwierigkeiten, Texte am Computer lesen zu können. Meine Lösung: Ich habe den Zoom meines Browsers erhöht. Nicht viel. Nur auf 110%, um wieder klarer sehen zu können.

Aber als ich eines Abends mit Freunden weggehen wollte, merkte ich beim Schminken plötzlich, dass eines meiner Augen kaum noch etwas wahrnahm. Ich dachte, dass dies sich bestimmt legen würde. „Vielleicht habe ich gerade ins Licht geguckt.“ Über die Tage vergaß ich diesen Fakt wieder, denn das zweite Auge glich alles aus.

Dann folgten Kopfschmerzen, Augenschmerzen und starker Schwindel. Wie das nunmal so ist, war Mama die erste Anlaufstelle. Ich erzählte ihr von meinem Auge und wir riefen sofort bei meiner Ärztin an, die uns sofort zu sich zitierte. Wie viele Besuche von Ärzt*innen noch folgen würden, konnte ich mir nicht ausmalen. Nachdem ich meiner Ärztin von Schmerzen berichtet hatte, erfuhr ich das erste Mal, was „Gaslighting“ bedeutet. Sie sprach mir meine Schmerzen ab und sagte, dass es nicht möglich sei, Schmerzen am Auge zu haben. Dass sie bei der Untersuchung keine Anzeichen im Auge sah, unterstützte meine Erzählungen nicht. Wir wurden zu einem Neurologen geschickt und suchten eine Fachklinik auf, die mir die erste Einweisung ins Krankenhaus gab. Es hieß „Hirnwasserentnahme“. Tränen schossen mir sofort in die Augen, als ich diesen Begriff hörte. Ich hatte unglaubliche Angst, denn den Begriff hatte ich vorher noch nie gehört. Was würde mit mir passieren und was hat mein Hirn damit zu tun? Und wie wollten sie dort Wasser entnehmen?

In den nächsten Monaten gab es verschiedene Kortisontherapien, mehrere Lumbalpunktionen wurden MRTs, CTs und eine Plasmapherese. Letzteres war für mich das Schlimmste, da mein Körper am zweiten Tag schlapp machte.

Über die Feiertage durfte ich das Krankenhaus verlassen, um bei meiner Familie zu sein. Natürlich war sie jeden Tag im Krankenhaus. Meine Mutter hatte mir versprochen, bei jeder Untersuchung dabei zu sein. Ohne sie durfte mich niemand anfassen. Natürlich hieß es nach den Feiertagen wieder zurück ins Krankenhaus. Es gab sogar einen Deal mit einem Arzt. Ich werde gesund und er würde eine Zeichnung von mir bekommen. Dr. House sollte es werden. Ich habe früher gerne und viel gezeichnet und gut. Ich war auf einer Fachhochschule für Gestaltung. Ich war Mediendesignerin. Doch Spoiler: Die Zeichnung hat er nie bekommen.

Leben mit LHON: Das Kind hat einen Namen

Ich habe die Krankenhausaufenthalte gehasst. Dass Diagnosen wie MS oder Hirntumor im Raum standen, war mir nicht bewusst. Im Februar 2012 merkte ich schlussendlich, dass jede Untersuchung nicht zielführend war. Es war an einem Sonntag auf einem Karnevalsumzug, als ich merkte, dass nun auch mein 2. Auge Symptome aufwies. Ich wusste, dass damit der nächste Krankenhausaufenthalt anstand.

Während der ganzen Aufenthalte konnte ich immer mehr dabei zusehen, wie mich meine Sehkraft verließ, während ich mir ausmalte, wann ich mit meinem Führerschein wohl weitermachen konnte. Mein Farbsehen verschwand ebenso. Ich konnte Farben immer schlechter unterscheiden. Ein großes Problem war die Farbe „Rot“. Ich hatte damals Probleme, mein Handy in der Farbe „Beere“ noch in dieser Farbe wahrzunehmen. Dies wurde von der späteren Problematik übertönt, dass ich Schwierigkeiten hatte, das Handy danach überhaupt noch wahrzunehmen, wenn mein Arzt es als Test vor mir hielt.

Anfang März gab es die Diagnose: LHON (Lebersche Hereditäre Optikus Neuropathie). Wie es weitergehen sollte? Keine Ahnung. Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich mein Praktikum nicht weiterführen konnte und damit die Schule mit dem Fachabitur in Gestaltung abbrach. Der Wunsch, Fotografie und Medien zu studieren, musste verschwinden.

Das Bild ist in einem Vitage Ton. Nadine steht an einem Geländer und schaut nach unten. braune Locken hängen herunter. Ein ellenbogen stützt auf dem Geländer und die Hand an der Stirn. In der anderen Hand hlt sie einen Lanstock. Sie ist bis zur Taille zu sehen. Sie trägt eine Ärmellose Weste

Leben mit LHON: Alles Neu

Stattdessen musste ich viel Neues lernen. Beispielsweise: Brailleschrift, der Umgang mit Hilfsmitteln, mit meiner Situation, wie ich meinen Alltag neu strukturiere, O&M-Training, (Orientierungs- und Mobilitätstraining) und vieles mehr. Ich lernte schnell.

Jedoch war die Verarbeitung meiner neuen Lebensrealität nicht so schnell abgeschlossen. Ich hatte einfach keine Lust auf alles. Ich wollte nicht blind sein, wenn das bedeutete, dass ich nicht mehr machen konnte, was ich wollte. Ich hatte das Gefühl, dass ich an jeder Stelle Veränderungen eingehen musste. Alles sträubte sich in mir, da Veränderungen nichts sind, womit ich gut umgehen kann. Es fühlte sich so an, als würde jede Person mir sagen, was ich tun solle und was ich jetzt machen muss, aber niemand würde hören, was ich machen will. Ich nahm in einer Studie Raxone – ohne Erfolg. Stattdessen wurde einfach immer nur die Dosis erhöht.

Ich absolvierte eine Probezeit auf einer Förderschule, nachdem mir Lehrer*innen an meiner alten Schule gesagt haben, dass sie nicht mehr wüssten, wie sie mich unterrichten sollten, wenn ich nichts sehen könne.

Ich wurde immer wieder mit neuen Aufgaben und Umbrüchen konfrontiert, hatte kaum Zeit mich an etwas zu gewöhnen oder zu verarbeiten. Es war alles zu viel. Ich merkte, dass natürlich auch meine Familie mitgelitten hat, was mir unglaublich weh tat. Ich wollte nicht der Grund sein, warum alle traurig waren. Also wollte ich es nicht sein – klappte natürlich nicht.

Nach der Probezeit blieb ich auf der Schule. Ich hatte die Hoffnung, dass ich wenigstens montags zu Hause bleiben dürfe, um am Kunstunterricht meiner alten Schule teilnehmen zu können und meine Freund*innen wieder zusehen. Denn am regulären Unterricht nahm ich noch nicht teil. Ich saß meist rum oder lernte Brailleschrift oder das 10-Fingersystem. Leider war dies nicht möglich. Man erklärte mir, dass es auch hier Kunstunterricht geben würde. Ich fühlte mich komplett unverstanden.

Leben mit LHON: Plötzlich blind

Auf der neuen Schule wurden meine Augen untersucht. Es gab einen Sehtest. Dort fiel auf, dass ich kaum noch etwas wahrnahm und nun der Umgang mit dem weißen Stock gelernt werden musste. Das war zu viel. Ich wollte, dass irgendetwas blieb, wie es war. Mein regulärer Termin beim Augenarzt wäre im Juni gewesen. Dort wurde dies nochmals bestätigt. Das alles ging so furchtbar schnell, dass ich immer wieder das Gefühl bekam, mich an nichts gewöhnen zu können. Um einfach der Kunst nicht fernbleiben zu müssen, entschied ich mich für den Schwerpunkt Erziehungswissenschaften. Nur in diesem Schwerpunkt wurde Kunst angeboten. Ein eigenartiger Weg, seine Zukunft zu gestalten – aber Kunst bestimmte mein Leben. Ich hatte nie richtig gewusst, was ich werden sollte und mit Fotografie und Medien hatte ich etwas gefunden, das mich interessierte, das ich wollte. Und nun kam ich davon nicht mehr los.

Gemeinsam mit der Schule wurde eine Liste erstellt, mit allen Hilfsmitteln, die ich nun brauchen würde. Privat und für die Schule. Da uns aber die Antragswege aufgrund der neuen Situation nicht ganz klar waren, wurde der Antrag Tage vor Beginn der Schule abgelehnt. Ich war am Boden zerstört. Wie sollte ich nun ohne Hilfsmittel in wenigen Tagen zur Schule gehen und am Unterricht teilnehmen? Brailleschrift beherrschte ich zwar, aber ich las sehr langsam. Zu langsam, um damit ganze Texte zu lesen und im selben Tempo wie die anderen Schüler*innen am Unterricht teilzunehmen. Dies machte den ersten Schultag zu einer Herausforderung und meine Motivation sank.

Die Schule stellte mir glücklicherweise Hilfsmittel, sodass ich in der Schule und zu Hause lernen konnte. Und wir? Wir gingen mit der Geschichte zur Zeitung und bekamen relativ schnell meine Hilfsmittel gestellt.

Leben mit LHON: Der innere Ableist

Nadine sit seitlich in einer Laufbewegung zu sehen. Das Bild ist schwarz-weiß. Menschen laufen an ihre vorbei.
Foto by Dirk Schönfeldt

Vielen Leuten in meinem Umfeld habe ich es nicht leicht gemacht. Zu spüren bekam dies auch meine damalige O&M-Trainerin. Diese verscheuchte ich bei ihrem ersten Besuch. Meine Mutter reagierte schnell. An der Haustür fing sie diese nochmals ab. Nach einem Gespräch mit ihr, kam sie nochmals zurück ins Wohnzimmer. Unter Tränen brauchte ich nur heraus, dass ich genauso laufen wollen würde wie alle anderen – ohne Stock.

Blind nun Dinge zu tun, schien für mich unmöglich. Wie sollte ich meine Hobbys weiter ausführen? Gerade weil ich ein kreativer Mensch bin, keine Hilfsmittel habe und trotzdem immer gerne gelesen habe? Für mich war klar: blind konnte ich nichts mehr. Bullshit – aber wenn da niemand ist, der einem den Weg zeigt. Wie sollte ich es besser wissen?

Ich war und bin bis heute ein richtiger Sturkopf. Ich konnte mich von meiner Leidenschaft zu fotografieren nicht trennen und noch weniger von meinem Traumberuf Fotografin zu werden. Manchmal muss man eben doch mit dem Kopf durch die Wand. Ich habe es wirklich versucht diesen Wunsch zu verbannen, aber er machte mich aus. Alle hielten es für unmöglich. Eine Chance für ein Praktikum bekam ich nie.

Leben mit LHON: Suchmaschinen ohne Hiobsbotschaft

Eltern fangen gerne an zu googeln. Normalerweise stirbt man bei den meisten Suchergebnissen. Meine Mutter fand eine Person, die blind mit einem Surfbrett riesige Wellen reitete. Nun war klar: Ich will das auch! Gut, nun waren Wellen vor der Haustür nicht vorhanden und das Meer auch nicht um die Ecke. Also musste eine Alternative her: Skateboard. Ab ging es in den Skatepark. Zu Hause sollte ich viel selbst machen, damit meine Selbstständigkeit erhalten bleibt. Also wurde alles Mögliche geübt. Einkaufen gehen, kochen, putzen usw. Auch Backen stand oben auf der Liste. Ganz zur Freude meiner Familie, denn dementsprechend sah auch die Küche aus. Doch das störte erstmal niemanden. Wichtig war, dass ich meinen Alltag wieder strukturieren konnte und etwas tun konnte, was ich gerne machte. Eine sprechende Waage kam also her und meine Klassenkamerad*innen erhielten oft selbstgemachte Muffins.

Schließlich nahm ich auch wieder die Kamera in die Hand und fotografierte im Garten. Und weil mir der Garten irgendwann nicht mehr reichte, wurden aus anfänglichen Bildern im Garten, die Landschaftsfotografie und daraus dann die Leidenschaft, Portraits zu schießen. Dabei gerne so märchenhaft, wie es nur ging. Und plötzlich fand ich mich wieder in der Welt der Elfen und Cosplavcharaktere. An den Bildern tobte ich mich richtig aus. Lichteffekte, bunte Farben und fantasievolle Hintergründe ließen die Bilder in einem neuen Licht erscheinen. Mit viel Kommunikation, Presets und Bearbeitungstools in Kombination mit Hilfsprogrammen bastelte ich mir selbst meinen Weg zusammen. Klar ist es nicht perfekt, aber für mich reicht es. Und letztendlich haben alle Künstler*innen ihren eigenen Stil.

Leben mit LHON: Die Gegenwart

Heute, über 11 Jahre nach der Diagnose, habe ich soziale Arbeit studiert, studiere Journalismus und bin Aktivistin. Dieses Jahr erscheint sogar eine Anthologie, an der ich mitgewirkt habe. Das alles ist kaum zu glauben. Hätte mir das damals jemand gesagt, hätte ich gelacht. Die Cosplayszene faszinierte mich so, dass ich direkt mitmachte und mich selbst immer wieder in Superheld*innen oder märchenhafte Elfenkostüme werfe. Ich stehe regelmäßig vor der Kamera. Das Modeln und Fotografieren ist ein präsenter Teil meines Lebens. Ich habe eine Hündin, warte auf meine zukünftige Blindenführhündin oder Blindenführhund, lebe mit meinem Partner in einer Wohnung und habe einen wundervollen Job in einem wundervollen inklusiven Team. Von Schlittschuhlaufen, Bogenschießen, alleine in den Urlaub fahren, die Teufelsmauer bezwingen oder gemütlich klettern gehen; ich probiere alles aus. Auch die erste kleine Autofahrt habe ich mir nicht entgehen lassen. Ansonsten regiert die Kreativität vor und hinter der Kamera meinen Alltag oder das bloggen.

Ich möchte nicht des anderen Menschen darüber entscheiden, was ich angeblich kann oder was nicht. Ich möchte das ich bei meinen Wünschen unterstützt werde, um diese zu erreichen. Eben ein selbstbestimmtes Leben führen kann. Egal ob es um meine LHON geht, meine ADHS, Fatigue oder psychischen Erkrankungen. All das gehört zu mir. Ich kann nicht in ein System gepresst werden, in das ich nicht reinpasse. Und das musste ich lernen. Dass all der Ausschluss, die Abwehr und die Dinge, die mir passierte einen Namen hatten. Dass nicht ich schuld daran war, wie ich behandelt wurde und werde, sondern das System nicht für behinderte Menschen gemacht wurde. Dass ich nicht falsch bin oder weniger wert, nur weil das gesellschaftlich vermittelt wird.

Nadine wird leicht von oben durch eine Scheibe fotografiert. Sie trägt eine dunkelrote Höse, eine Cap und eine dunkelgraue ärmellose Weste. Sie hat kinnlange braune Haare und hält einen Langtock in einer Hand. Sie sitzt auf ienem Sitzsack
Fotos by: Dirk Schönfeldt

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Ich bin eine Inklusions-Aktivistin und um weiterhin auf diesem Blog aktiv zu bleiben, recherchieren und schreiben zu können, sowie um meine Aufklärungsarbeit fortzuführen, benötige ich eure Unterstützung. Meine Arbeit erfordert regelmäßige Aufklärungsarbeit, die oft mit Reisen, Interviews und der Bestellung von Büchern für Weiterbildungen verbunden ist. Stöbert durch meine aufklärenden und bewusstseinsfördernden Arbeiten auf verschiedenen Social-Media-Plattformen.

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