Konzertbesuche gehören einfach zu meinem Leben dazu. Ich liebe Musik. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht stundenlang Musik höre. Ich brauche sie als Motivation, als beruhigenden Hintergrund und als Ventil. Egal, ob es darum geht, Musik selbst zu machen oder Musik zu hören. Und was ist besser, als seine Lieblingskünstler*innen nicht nur über die Kopfhörer wahrzunehmen, sondern sie live zu erleben? Und sie einen nicht nur mit ihrem Gesang live überzeugen, sondern auch entertainen? Wie ist es aber als blinde ADHSlerin und Autistin bei Konzertbesuchen?
Dennoch habe ich ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Konzertbesuchen. Es ist ein schmaler Grad zwischen dem Fight und Flight Modus, einem unglaublichen Level an Stress und Musik, die ich für meinen Alltag so sehr brauche.
Konzertbesuche: Nachteilsausgleiche für behinderte Menschen
Für mich bedeutet dies erst einmal, mich durch die Internetseiten zu klicken und Künstlerinnen zu finden, die ich gerne höre, mich mit Anbieterinnen in Verbindung zu setzen, um mögliche Nachteilsausgleiche zu erfahren und mir die Tickets zu besorgen. An diesem Punkt werde ic h manchmal gebeten, eine kostenpflichtige Nummer anzurufen. Hier bitte ich oftmals, die per Mailkontakt lösen zu können. Da ich Anrufe versuche zu vermeiden und ich es nicht einsehe, dass ich eine kostenpflichtige Nummer anrufen soll, weil ich Karten mit Nachteilsausgleich benötige.
Diese kann ich nicht einfach über das System kaufen, sofern ich eine Karte für eine Begleitperson benötige. Bei den unterschiedlichen Veranstaltungen können die Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche unterschiedliche sein. Manchmal bekomme ich sie, manchmal gilt eine Begleitperson nur bei Personen, die einen Rollstuhl benutzen. Und dass, obwohl ich genauso auf eine Begleitperson angewiesen bin, wie Personen, die einen Rollstuhl nutzen. Ohne eine Begleitperson wäre mir Konzertbesuche nicht möglich.
Während ich immer Sitzplätze habe, da ich es körperlich nicht vor der Bühne in der Menge aushalten würde, sollte man meinen, dass Stress nicht nötig ist. Warum auch? Die Karten gelten oft für bestimmte Sitzplätze. Aber schon auf der Fahrt sieht dies anders aus. Kurz vor dem Veranstaltungsort tummeln sich die Autos und suchen Parkplätze. Jede Sekunde, die wir im Auto verbringen, könnte dazu führen, dass wir eine Sekunde zu spät kommen könnten. Es stresst mich unglaublich, zu spät zu kommen und nur eine Sekunde zu verpassen. Es ist wie ein begonnener Film, den ich nicht schauen würde. Einfach weil er angefangen hat.
Konzertbesuche und Barrieren
Das Stehen in den Schlangen bedeutet für mich oft Stress. Viele Menschen tummeln sich vor dem Eingang. Sie laufen wild durcheinander, nehmen aus Vorfreude wenig wahr und ich werde oft von meinem Partner getrennt. Nicht durch die Menschen, sondern durch die Sicherheitskontrollen, die uns Geschlechtsspezifisch zu ordnen.
Nicht immer sind in der Nähe Behindertentoiletten vorhanden, so dass ich auf die Damentoilette muss. Diese ist oft durch viele Personen, die sie benutzen, besetzt, gekennzeichnet durch eine lange Schlange, die es mir erschwert mich zu orientieren und eine hohe Anzahl an Kabinen, die es mir unmöglich macht, eine freiwerdende Kabine wahrzunehmen.
Und dann betreten wir endlich den Eingang. Ab jetzt bin ich komplett auf die Unterstützung meiner Begleitperson angewiesen. Ich benötige Führung. Viele Menschen drängeln durch die Gänge, bleiben stehen oder laufen wild durcheinander. Und jede Sekunde könnte die Vorband anfangen. Auch aus weiteren Gründen ist es für mich wichtig an meinem Platz zu sein, bevor der erste Ton gespielt wird. Sobald die Musik beginnt, wird eine Lautstärke erreicht, die mir die Orientierung nimmt. Der Boden unter meinen Füßen vibriert, die Musik macht jede Orientierung per Akustik unmöglich und ich fühle mich überfordert und hilflos. Mit wackeligen Beinen laufe ich die Treppen.

Neurodivergenz und Konzertbesuche: Wenn Reize überhand nehmen
Doch selten kommt es dazu, dass wir so spät ankommen. In der Halle gibt es viele Reize für mich. Viele Stimmen, ein stündiges Aufstehen, um weitere Menschen in die Sitzreihe zu lassen und Menschen, die einen versehentlich berühren. Manchmal wünschte ich mir einen zusätzlichen autistischen Platz. So etwas gibt es natürlich nicht. Aber es wäre der Platz, der neben mir frei bleiben würde. Warum? Weil dann eine fremde Person neben mir sitzt, sie mich versehentlich bei jeder Bewegung berührt, redet, mir bei langsamen Songs das Handylicht ins Gesicht hält und mich diese Momente unglaublich überreizt. Sie überfordern mich und sind zu viel.
Und dann geht es los. Sobald der erste Ton gespielt wird, springe ich auf. Und wisst ihr, was ich mit dem ganzen Stress mache? Ich schreie ihn bei jedem Lied heraus. Und wenn ich den Text nicht kann, dann schreie ich einfach noch lauter. Ich stimme das Konzert komplett durch und lasse alles durch Tanzen raus. Ich bewege meinen Körper zu dem Beat der Musik. Ja, ich bin die nervige Sitznachbarin, die ich nicht neben mir haben will.
Das Konzert erreicht nicht nur eine ohrenbetäubende Lautstärke, die zu viel ist, sondern Lichteffekte stressen mich ebenfalls. Licht, das flackert, das sich hin und her bewegt und nicht still zu stehen scheint, während es immer wieder die Farbe wechselt. Zwischendurch bewerfen einen die Scheinwerfer mit Licht, das mir in den Augen wehtut. Ja und jedes Mal aufs Neue vergesse ich meine Kantenfilterbrille. Zudem könnte ich auch Ohrenstöpsel mitnehmen, aber ich bin schon froh, dass ich wenigstens daran denke, die Karten einzupacken. „Hast du die Karten?“ „Natürlich“ sage ich immer und packe sie noch schnell in meine Handtasche.
Und obwohl das Licht mich blendet und überreizt, hat es einen weiteren Aspekt. Denn ich kann es wahrnehmen. Die hellen Strahlen in der dunklen Halle kann ich erkennen. Auch, wenn ich nicht immer die richtigen Farben erkennen kann. Dies ist für mich immer etwas ganz Besonderes. Daher freue ich mich oft über die vielen bunten Lichter, auch wenn ich meinen Kopf oft wegdrehen muss.
Neben dem Fakt, dass Nebel fliegt, Konfetti fällt, Feuereffekte angewendet werden und man mit Licht beworfen wird, dröhnt der Bass in meinem Körper und durchzieht diesen, als würde er ihn jeden Moment zerreißen. Einer Situation, der ich gerne entkommen würde, aber die mich gleichzeitig so lebendig fühlen lässt.
Nach einem Konzert bin ich immer noch aufgedreht. Mit zu viel Energie und zu viel Adrenalin, das aus meinem Körper wie Luft aus einem Luftballon entweichen möchte, lasse ich diese heraus.
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